LANDKREIS FULDA. Stellen Sie sich vor, Sie sind im Auto unterwegs und werden von einem weißhaarigen Herrn in neongelber Weste an den Straßenrand gewunken und gebeten, ihn leicht anzufahren. Wenn Gerhard Brink von der Kreisverkehrswacht Kindern die Gefahren im Straßenverkehr aufzeigt, ist er nicht nur mit Herz und Seele, sondern auch mit vollem Körpereinsatz bei der Sache.
Im beschriebenen Fall verdeutlicht er gerade Kindergartenkindern im Rahmen eines Schulweg-Trainings, was passieren kann, wenn sie zu dicht an der Bordsteinkante laufen: „Mich hat der Autospiegel am Ellenbogen getroffen, aber bei euch wäre es der Kopf.“ Nach einem lauten „Dankeschön“ von Brink und den Kindern kann die hilfsbereite Autofahrerin ihren Weg fortsetzen.
Das Schulweg-Training bietet die Kreisverkehrswacht gemeinsam mit der Unfallkasse Hessen kostenlos an. Neun Kindergärten im Landkreis Fulda nehmen seit mehreren Jahren regelmäßig daran teil, zum Beispiel der evangelische Kindergarten in Tann. „Uns hat das praxisnahe Konzept überzeugt“, begründet die Leiterin Silvia Henfling.
An zwei Vormittagen hat Gerhard Brink mit den angehenden Schulkindern trainiert: das Gehweglaufen mit Überqueren von Ausfahrten, das Laufen zwischen parkenden Autos, das Fahrbahn-Überqueren mit Mittelinsel, Ampel und Zebrastreifen. „Es geht darum, dass die Kinder sich ohne Angst im Straßenverkehr bewegen“, erläutert der pensionierte Polizeikommissar, der auch Vorsitzender der Kreisverkehrswacht ist.
Am dritten Tag steht eine Prüfung zur Erlangung des Schulweg-Passes an. Dafür laufen die Jungen und Mädchen allein die zuvor gemeinsam geübte Strecke rund um den Kindergarten ab, während Eltern die Überquerungsstellen sichern und das Verhalten der Prüflinge bewerten. Durchfallen kann keiner. Es gibt Tipps und für alle am Ende zur Belohnung ein kleines Kuscheltier, ein Malheft und eine Warnweste. Obwohl zuvor geübt, bleibt eine Sechsjährige unsicher vor den Mülltonnen stehen, die ihr den Weg versperren. „Wenn du geschaut hast, dass kein Fahrzeug kommt, darfst du die Fahrbahn betreten“, hilft ihr eine Mutter.
Neben dem regelmäßigen Üben ist laut Brink die Vorbildfunktion wichtig. Deshalb werden die Eltern eingebunden, nicht nur als Streckenposten am Abschlusstag, sondern auch in Form eines Elternabends, in dem über altersbedingte Entwicklungs- und Verhaltensmerkmale von Kindern informiert wird: sie können viele Hindernisse nicht überblicken, haben ein im Vergleich zu Erwachsenen eingeschränktes Sichtfeld und lassen sich leicht ablenken. Bei der „Prüfung“ in Tann ist es beispielsweise ein Gully-Deckel, in dem das Regenwasser sprudelt, der die Aufmerksamkeit stärker fesselt als das herannahende Auto, in Bad Salzschlirf waren es sich paarende Feuerkäfer.
Trotzdem plädiert Brink dafür, die Kinder zur Schule laufen zu lassen, und zwar ohne Zeitdruck. Die meisten der 350 Erstklässler, die in Hessen jährlich auf dem Schulweg verunglücken, seien Passagiere im Elterntaxi. „Ich habe mit meinem Sohn nie vor dem Vorbeilaufen in parkende Autos geschaut, ob da jemand sitzt, der vielleicht gleich startet“, räumt eine Mutter ein. Auch ein Vater meint, er sei sich nicht bewusst gewesen, welche Herausforderungen der Straßenverkehr für Kinder bereithalte.
Mit Stolz und Begeisterung nahmen die kleinen Teilnehmer am Ende unter Applaus Schulweg-Pass und Geschenke entgegen. „Wie nennst du das kleine Nilpferd? Vielleicht Gerhard?“, regt eine Mutter an. „Nein, Herr Brink. Weil der so nett und lustig ist.“ Dabei können sich die künftigen Schulkinder auf ein baldiges Wiedersehen mit dem ehrenamtlich arbeitenden Moderator freuen. Denn im kommenden Schuljahr findet an der Tanner Grundschule ein Mobilitäts-Aktionstag mit der Kreisverkehrswacht statt.