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Stadt Tann, Evangelische Kirchengemeinde und Geschichtsverein gedachten der Pogromnacht von 1938 mit hebräischen Liedern

Einen Einblick in die Vielfalt jüdischer Kultur ermöglichten die Berliner Musiker Esther Lorenz und Peter Kuhz mit ihrem Konzertprogramm „Hebräische Lieder“. Der Koffer (links im Bild), den der Tanner Geschichtsverein auf einem Flohmarkt entdeckt hatte, ist übrigens noch am gleichen Abend zu einem neuen Besitzer „weitergereist“. Foto: Sandra Limpert

Die ehemalige Synagoge in Tann Foto: Archiv Antje Dänner

Für einen Augenblick wird jüdische Kultur wieder lebendig

TANN, 17.11.2020 - „In Tann gab es ein buntes jüdisches Leben, mit jüdischen Geschäften und jüdischer Kultur“, erinnerte Bürgermeister Mario Dänner während des Gedenkgottesdienstes in der Stadtkirche anlässlich der Reichspogromnacht. Mit hebräischen Liedern, dargeboten von Sängerin Esther Lorenz und Peter Kuhz an der Gitarre, kehrte für einen Augenblick die seit der Nazi-Herrschaft verschwundene jüdische Kultur in die Rhönstadt zurück.

 

Ursprünglich war der Auftritt der Berliner Musiker von der Evangelischen Kirchengemeinde und dem Kultur- und Geschichtsverein Tann als eigenständiges Konzert geplant mit anschließendem Gedenken auf dem Synagogenplatz, doch aufgrund der Corona-Bestimmungen mussten beide Veranstaltungen verkürzt und zusammengelegt werden.

 

Im Altarbereich stand ein nostalgischer, großer Koffer, beschriftet mit den Namen „Goldschmidt“, „Fromm“ und „Sichel“ und dem Reiseziel „New York“. Hans-Jürgen Krenzer, Vorsitzender des KGV, zog aufgrund der typisch jüdischen Namen auf dem Gepäckstück eine Verbindung zu den insgesamt 140 000 Verfolgten, die als Reaktion auf den Pogrom aus Deutschland und Österreich in die USA oder andere Länder geflüchtet waren.

 

Zu dem Koffer auf der „Bühne“ passte aus dem Repertoire der Musiker ein sephardisches Abschiedslied; Sängerin Lorenz erklärte, dass Sepharden die Nachfolger der spanisch-geprägten Juden seien, die ab 1492 von der iberischen Halbinsel vertrieben worden waren. So wie die Sprache „Ladino“ aus dem Spanischen vermischt mit jüdischen Ausdrücken entstanden ist, hat sich aus dem Mittelhochdeutschen Jiddisch entwickelt. Auch jiddische Lieder brachten die Musiker zu Gehör, verbunden mit Informationen über diese Kultur. So hätten vor dem Zweiten Weltkrieg elf Millionen Menschen diese Sprache verstanden, während es heute nur mehr 200 000 seien.

 

Die Liedauswahl bot einen Einblick in die überraschend vielfältigen Strömungen und Wurzeln des Judentums. Ältestes Stück aus dem Repertoire war das „Hohe Lied Salomos“, ein erotisches Liebeslied, das auch im Alten Testament steht. Das jüngste - „Erev shel shoshanim“ - stammt von 1957 und ist ein bekanntes israelisches Liebeslied, das oft auf Hochzeiten gespielt und gesungen werde. Aus der chassidischen Kultur, einer jüdischen Bewegung aus dem 18. Jahrhundert, für die Tanz, Musik und Lebensfreude eine große Rolle spielte, stellten Lorenz und Kuhz ein mitreißendes Tanzlied vor.

 

Sowohl Bürgermeister Dänner als auch Pfarrerin Heike Dietrich betonten, wie wichtig es sei, die Schrecken des 9. November 1938 präsent zu erhalten, denn wer sich nicht erinnere, laufe Gefahr, dass sich Geschichte wiederhole. Die Pfarrerin forderte dazu auf, Farbe zu bekennen, wenn Menschenrechte missachtet oder Minderheiten bedroht würden. „Wir spüren gerade am eigenen Leib, wie es ist, wenn Fanatikern die Lebensweise anderer nicht passt“, spielte sie auf die jüngsten islamistischen Anschläge an. In ihr Abschlussgebet bezog sie den Wunsch nach Frieden im Nahen Osten und für den Schutz von Minderheiten mit ein.

 

In aller Stille legte Dänner im Namen der Stadt einen Kranz am Platz der ehemaligen Synagoge nieder. Ebenfalls ohne die in den Vorjahren üblichen Begleitworte stellten Tanner Bürger dort brennende Kerzen auf, eine für jeden Namen auf dem Gedenkstein. Doch gerade nach dem stimmungsvollen Konzert mit jüdischen Liedern über Liebe, Lebensfreude, Zukunftsträume und Hoffnungen sprachen die 54 Lichter für sich.

 

Info

Anders als viele andere jüdische Gotteshäuser in Deutschland ist die Tanner Synagoge nicht in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 von Nazi-Schergen abgebrannt worden, sondern erst in den darauffolgenden Monaten nach und nach abgerissen worden. Anwohner hinderten die SA-Männer, die vermutlich aus Günthers und Geisa stammten, daran, das Gebäude in Brand zu stecken, weil sie ein Übergreifen der Flammen auf ihre Häuser befürchteten. Nicht verhindert wurde die Zerstörung der Inneneinrichtung. Fensterscheiben und das gesamte Gestühl wurden mit Äxten zerschlagen, die Fensterbänke herausgerissen und die handgeschriebene Thora als lange weiße Bahn bis ans Rathaus hinuntergerollt.

 

Bürgermeister Joseph Bott plante für die zerstörte Synagoge eine Verwendung als Turn- und Versammlungsraum, jedoch wurde Ende 1938 der Abriss abgeordnet. Stein für Stein habe ein einzelner Fanatiker diesen in Eigenregie durchgeführt. „Zum Segen gereichte es ihm nicht“, erinnern sich einige ältere Tanner. Stürzte der Mann doch bei diesem Unterfangen und verstarb Monate später an den Folgen des Unfalls.

 

Bei der Plünderung jüdischer Geschäfte und Wohnhäuser wurden Bettdecken und Kissen aufgeschlitzt, sodass die Federn sich auf den Straßen neben den Glasscherben verteilten. Die Gewalt äußerte sich nicht nur in Sachbeschädigung. 1986 berichtete der ehemalige Tanner Rabbiner Heinrich Okolica, dass zunächst alle Juden verhaftet und in einen Keller gesperrt worden seien. Im Anschluss seien sie durch die Straßen getrieben, mit Steinen beworfen und bespuckt worden. Der Viehhändler Max Freudenthal wurde brutal zusammengeschlagen.

 

Karl-Heinz Pongs erinnerte sich an kleine Gesten von Zivilcourage: Als Kind bekam er 1938 an besagtem Abend mit, wie SA-Männer zwei ältere Jüdinnen beschimpften und bedrohten. Dann sei ein nichtjüdischer Nachbar gekommen und habe die Aggressoren beschwichtigt und fortgeschickt. Etwa vier Jahre lang wohnten die beiden Frauen weiterhin in der Judenschule, von seiner Mutter und einer weiteren Nachbarin heimlich mit Lebensmitteln versorgt. Als 1942 die letzten jüdischen Mitbürger aus Tann in Konzentrationslager deportiert wurden, waren darunter auch die zwei Seniorinnen.

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